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Der Chefredaktor und der Dreisatz

Und also gelobte der Blick vor wenigen Tagen: „So arbeitet Blick: Unabhängig und mit Haltung. Die Blick-Chefredaktion hat sich zu Beginn der Pandemie entschieden, betont sachlich und faktenorientiert zu berichten … Tatsachen liefern statt Mutmassungen.“ (www.blick.ch/news/die-chefredaktion-in-eigener-sache-so-arbeitet-blick-unabhaengig-und-mit-haltung-id17121432.html) Erstunterzeichner dieses Manifests aus der Blick-Chefredaktion: Christian Dorer, Chefredaktor der Blick-Gruppe - und damit Chef der Chefredaktoren aller Blick-Publikationen.


Kolumne von Thomas Baumann,

Freier Autor - u.a. Tagesanzeiger, NZZ und Weltwoche - und Ökonom

Doch was schrieb er selbst in einem Leitartikel im Blick Anfang November (www.blick.ch/meinung/thema-der-woche/blickpunkt-ueber-corona-skeptiker-die-lauten-und-die-leisen-id16964802.html)? „Statistisch gesehen verhindern 150 zusätzliche Impfungen je eine Einweisung auf die Intensivstation.“


Zu den Zahlen: Die durchschnittliche Belegung der Intensivstationen durch COVID-Patienten betrug im Herbst 2021 rund 200 Personen. Bei einer – konservativ geschätzt – zweiwöchigen Aufenthaltsdauer ergibt dies pro Jahr 5200 Einweisungen von COVID-Patienten in die Intensivstationen. In Tat und Wahrheit dürfte die Zahl deutlich tiefer liegen, sie wird aber vom BAG im Gegensatz zu den Spitaleinweisungen nicht separat ausgewiesen. Wir wollen dem Chef der Chefredaktoren ebenfalls zugute halten, dass er mit 150 Impfungen 150 immunisierte, also doppelt geimpfte, Personen gemeint habe und nicht etwa 150 einzelne Impfdosen.


Die Plausibilität der Aussage von Christian Dorer lässt sich mit zwei einfachen Dreisätzen überprüfen, wie sie bereits in der Primarschule gelehrt werden.


Dreisatz Nummer 1: Wenn 150 Immunisierungen eine Einweisung auf die IPS verhindert können – wie viele Immunisierungen benötigt es dann, um 5200 Einweisungen auf die IPS zu verhindern? Antwort: 780‘000.


Dreisatz Nummer 2: Wenn in der Schweiz 5‘892‘944 vollständig geimpfte Personen einer Impfquote von 67.66% entsprechen, welcher Impfquote entsprechen dann 780‘000 vollständig geimpfte Personen? Antwort: Rund 9%.


Zusammengefasst: Wenn die Impfquote in der Schweiz um 9% steigt, sinkt die Zahl der IPS-Einweisungen auf Null – dies ergibt sich mathematisch sauber aus der Dorer’schen Prämisse, dass pro zusätzlicher 150 Impfungen die Zahl der Einweisungen auf die Intensivstationen um eine Einheit zurückgeht.


Derzeit beträgt die Quote vollständig geimpfter Personen rund 68 Prozent. Würde sie um 9 Prozent, also auf 77 Prozent steigen, dann gäbe es gemäss dem Chef aller Blick-Chefredaktoren keine einzige Einweisung von COVID-Patienten auf die Intensivstationen mehr. Und was wäre, wenn die Zahl der Immunisierten um mehr als 9 Prozent steigt? Dann würde die Zahl der IPS-Einweisungen negativ, also kleiner als Null. Es ist also ziemlich offensichtlich, dass die Dorer‘sche Behauptung mathematisch nicht aufgehen kann.


Das Gelöbnis aus der Blick-Redaktion ist eine Reaktion auf das Video von Dorers Vorgesetzten, Ringier-CEO Marc Walder, in dem dieser gelobte, dass sämtliche Ringier-Publikationen die Regierungen in ihrem Kampf gegen die COVID-Pandemie mehr oder weniger kritiklos unterstützen würden.


Tatsächlich stammt die Behauptung einer verhinderten Einweisung auf die Intensivstation pro 150 Impfungen ursprünglich gar nicht von Christian Dorer – sondern von Bundesrat Alain Berset. Solange eine Zeitung nur darüber berichtet, ist damit alles in Ordnung: Nicht jede Aussage eines Regierungsmitglieds muss mathematisch auf ihre Plausibilität überprüft werden. Wenn er sich aber diese Behauptung kritiklos und ohne Quellenangabe zu Eigen macht, dann ist der Journalist sehr wohl verantwortlich für den Wahrheitsgehalt seiner Aussage. Vor allem, wenn sich diese mit zwei einfachen Dreisätzen, wie sie bereits in der Primarschule gelehrt werden, einfach überprüfen lässt und kein Mathematikstudium voraussetzt.


Bundesrat Berset nannte übrigens noch eine andere Zahl: 50 Impfungen würden eine Spitaleinweisung verhindern. Da die Zahl der Spitaleinweisungen vom BAG separat ausgewiesen wird, lässt sich in diesem Fall der Effekt anhand der vorhandenen Zahlen berechnen. Auch hier würde eine um 8-9 Prozent höhere Impfquote die Spitaleinweisungen auf Null reduzieren und zu dem Paradox führen, dass bei einer „zu hohen“ Impfquote die Zahl der Spitaleinweisungen „unter Null“ fällt.


Vorauseilender Gehorsam gegenüber den Regierenden, wie vom Ringier-CEO verordnet, macht die Medien unglaubwürdig. Noch unglaubwürdiger werden sie nur noch, wenn ihr oberster Chefredaktor in vorauseilenden Gehorsam selbst den Stoff aus der Primarschulzeit nicht beherrscht. Die Blick-Chefredaktion mag noch so viel Haltung geloben: Wer nicht imstande ist, Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, liefert am Ende des Tages bestenfalls Mutmassungen, aber keine Tatsachen.


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